
Zwischen den schneebedeckten Gletschern Eyjafjallajökull und Tindfjallajökull liegt ein Ort, der wie aus einer anderen Welt zu stammen scheint: Þórsmörk – der „Wald des Thor“. Inmitten des wilden Südens Islands verbirgt sich dieses grüne Juwel, ein geheimnisvolles Tal, das durch seine abgeschiedene Lage und sein eigenes Mikroklima schon fast märchenhaft wirkt. Hier, wo die Flüsse Krossá, Þröngá und Markarfljót sich durch das zerklüftete Terrain winden, hat die Natur ein kleines Paradies erschaffen: üppige Moose, zarte Farne und lichte Birkenwälder kleiden die Hänge, die von eisigen Gletschern umgeben sind. Der Mýrdalsjökull ragt im Südosten über das Tal hinaus und verstärkt das Gefühl, an einem versteckten, fast vergessenen Ort zu sein – fern vom Rest der Welt.
Trotz seiner Abgeschiedenheit ist Þórsmörk keineswegs ein Ort der Stille und Einsamkeit. Über Jahrhunderte versuchten sich hier Menschen niederzulassen – drei Höfe bildeten einst die kleine Siedlung, doch die raue Natur forderte ihren Tribut. Erosion war ein ständiger Feind, sodass 1924 schließlich ein besonders gefährdeter Teil des Tals unter Naturschutz gestellt wurde. Die Landwirtschaft verschwand, doch mit dem wachsenden Interesse am Naturtourismus erblühte die Region neu. Heute leben die Menschen hier nicht mehr von Schafen oder Ackerbau, sondern von Wanderfreunden, Naturverliebten und Abenteuerlustigen, die in Þórsmörk den Zauber der Wildnis suchen.
Der Name selbst trägt eine kraftvolle Geschichte in sich. Þórsmörk ist benannt nach dem germanischen Donnergott Thor – passend, wenn man bedenkt, welche Naturgewalten hier am Werk sind. Interessanterweise bezieht sich der Name eigentlich auf den Höhenzug im Norden des Tals. Die südliche Seite trägt den Namen Goðaland, das „Land der Götter“. Doch im alltäglichen Sprachgebrauch hat sich Þórsmörk längst als Bezeichnung für das gesamte Tal eingebürgert – als wolle man Thor und seine mythische Kraft über das ganze Gebiet ausdehnen.
Der Weg in dieses versteckte Paradies ist abenteuerlich und nichts für schwache Nerven. Von der Ringstraße biegt man nahe Hvolsvöllur auf eine unscheinbare Nebenstraße ab, die sich bald in eine Schotterpiste verwandelt. Je weiter man ins Tal vordringt, desto wilder wird der Weg: Flussdurchquerungen, tiefe Furten und vulkanische Ablagerungen machen die Anreise zu einem echten Erlebnis. Spätestens beim Gletscher Gígjökull, wo der Vulkanausbruch des Eyjafjallajökull 2010 die Strecke mit Asche verschüttete, wird klar: Þórsmörk will erobert werden.
Wer es allerdings bis hierher schafft, wird reich belohnt. Im Sommer und rund um Ostern verkehren Busse von Reykjavík, die Abenteurer ins Tal bringen. Vor Ort gibt es einfache, aber charmante Unterkünfte, Campingplätze und sogar eine kleine Einkaufsmöglichkeit. Þórsmörk ist dabei nicht nur ein Anziehungspunkt für Touristen aus aller Welt – auch isländische Jugendliche pilgern jedes Jahr Anfang Juli hierher, um den Sommer mit Lagerfeuern, Musik und Freiheit unter freiem Himmel zu feiern.
Besonders Wanderer finden in Þórsmörk ihr Glück. Ob sanfte Pfade durch märchenhafte Wälder, der Anstieg auf schroffe Bergrücken oder Trekkingtouren wie der berühmte Laugavegur – das Tal ist ein wahres Wanderparadies. Eine besonders eindrucksvolle Route führt in die geheimnisvolle Schlucht Stakkholtsgjá, in deren Tiefe ein Wasserfall rauscht. Hier, zwischen uralten Felsen, tropfendem Moos und dem entfernten Grollen der Gletscherflüsse, spürt man sie noch – die Kraft Thors, die Wildheit der Natur und die Magie eines Ortes, der wie kein zweiter die Seele Islands atmet.