Þingvellir – Wo sich Geschichte und Erdgewalten treffen

Þingvellir, Thingvellir
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Etwa vierzig Kilometer östlich von Reykjavík öffnet sich ein Ort, der wie kein anderer die Geschichte und Geologie Islands in sich vereint: Þingvellir – eine Ebene, die seit über tausend Jahren das Herz der Nation bildet. Eingebettet in eine dramatische Landschaft aus Felsspalten, Lavafeldern und dem tiefblauen Þingvallavatn-See, ist dieser Ort nicht nur ein stilles Zeugnis der Naturgewalten, sondern auch ein lebendiges Symbol für Demokratie, Wandel und nationale Identität.

Sein Name ist Programm: „Þing“ bedeutet Volksversammlung, „vellir“ die Ebene – Þingvellir also die Ebene des Things. Schon um das Jahr 930 versammelten sich hier die Bewohner der jungen Insel, um Gesetze zu beschließen und Streitigkeiten zu schlichten. Die Menschen kamen zu Pferd, ritten auf alten Pfaden aus allen Himmelsrichtungen zusammen, um für zwei Wochen im Juni unter freiem Himmel zu beraten. Es war das Althing, eines der ältesten Parlamente der Welt, das hier geboren wurde – lange vor dem britischen Unterhaus, lange vor moderner Demokratie. Unter freiem Himmel und zwischen steilen Felswänden regierten Worte, nicht Waffen. Der Ort wurde zum politischen Zentrum, zum Treffpunkt der freien Männer Islands.

Auch bedeutende Entscheidungen wurden hier gefällt. Im Jahr 1000 wurde in Þingvellir unter dem Druck innerer Spannungen und äußerer Bedrohungen der Übertritt zum Christentum beschlossen – ein Schritt, der das Land tiefgreifend veränderte. Fast tausend Jahre später, am 17. Juni 1944, als der Zweite Weltkrieg tobte, rief man in Þingvellir die Republik Island aus. Das Volk versammelte sich erneut in der alten Thing-Ebene, diesmal um die vollständige Unabhängigkeit von Dänemark zu feiern. Die symbolische Kraft dieses Ortes war größer denn je.

Wer heute durch Þingvellir wandert, begegnet dieser Geschichte auf Schritt und Tritt. In der Nähe der beeindruckenden Felsspalte Almannagjá sind noch verwitterte Steinmauern zu sehen, Überreste der einfachen Lagerstätten, in denen die Teilnehmer des Things einst ihre Zelte aufschlugen. Zwischen Moos, Basalt und Heide erinnert das Land selbst an seine Vergangenheit.

Doch Þingvellir ist nicht nur ein Ort der Erinnerung, sondern auch ein faszinierendes geologisches Wunder. Hier trifft Europa auf Amerika – buchstäblich. Die eurasische und die nordamerikanische tektonische Platte treiben jedes Jahr ein kleines Stück weiter auseinander, sichtbar in den dramatischen Rissen und Spalten, die sich durch die Landschaft ziehen. Besonders eindrucksvoll ist die Almannagjá, die Allmännerschlucht, wo das Land aufgebrochen scheint wie von einer gewaltigen Faust gespalten. Der Fluss Öxará durchzieht diese Ebene und stürzt am Öxarárfoss tosend in die Tiefe – ein Wasserfall, der das rohe Element Wasser in seiner wildesten Form zeigt.

Nur wenige Schritte entfernt liegt die Silfra-Spalte – ein magischer Ort für Taucher. Das kristallklare, eiskalte Wasser erlaubt es, direkt zwischen den Kontinenten zu schwimmen. Nirgendwo sonst auf der Welt kann man mit einem Atemzug zwei tektonische Platten berühren.

Im Laufe der Jahre wurde Þingvellir zu einem der bekanntesten Ziele Islands und bildet gemeinsam mit dem Geysirgebiet im Haukadalur und dem Wasserfall Gullfoss den berühmten Golden Circle. Bereits 1930 wurde das Gebiet zum Nationalpark erklärt – zum Gedenken an das 1000-jährige Bestehen des Althing. 2004 schließlich nahm die UNESCO Þingvellir in die Liste des Weltkulturerbes auf. Und obwohl ein Feuer im Jahr 2009 das traditionsreiche Hotel Valhöll zerstörte und eine plötzliche Erdspalte 2011 den Wanderweg durch die Schlucht gefährlich unterhöhlte, bleibt Þingvellir ein Ort voller Leben, Magie und Bedeutung – ein Schauplatz, an dem sich Natur und Geschichte wie kaum irgendwo sonst auf der Welt die Hand reichen.

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