
Am westlichen Rand der Stadt Edfu in Oberägypten erhebt sich ein beeindruckendes Bauwerk, das nicht nur wegen seiner majestätischen Erscheinung, sondern auch wegen seiner außergewöhnlich guten Erhaltung fasziniert: der Tempel von Edfu. Nur rund 100 Kilometer nördlich von Assuan und etwa 85 Kilometer südlich von Luxor liegt diese Tempelanlage direkt am Westufer des Nils und zieht Besucher aus aller Welt in ihren Bann. Es handelt sich um eines der am besten erhaltenen Monumente der altägyptischen Geschichte, und das nicht ohne Grund: Über Jahrhunderte hinweg war der Tempel vom Wüstensand nahezu vollständig bedeckt, was ihn vor der Zerstörung bewahrte und seinen großartigen Zustand erklärt.
Geweiht ist der Tempel dem falkenköpfigen Gott Horus in seiner Erscheinung als Hor-Behdeti – dem „Horus von Edfu“. Dieser war nicht nur der Schutzgott der Stadt, sondern hatte auch eine besondere mythologische Bedeutung: Der Überlieferung nach kämpfte er hier gegen seinen finsteren Widersacher Seth, eine Geschichte, die sich tief in die religiösen Vorstellungen der Region einprägte. In der ptolemäischen Zeit, als griechische Herrscher über Ägypten regierten, wurde Horus mit dem Gott Apollon gleichgesetzt, weshalb die Stadt damals den Namen Apollonopolis Magna trug.
Der Bau des heutigen Tempels begann im Jahr 237 v. Chr., zur Zeit des Ptolemaios III. Euergetes I. In einer feierlichen Zeremonie, gemeinsam mit der Göttin Seschat, Göttin der Schrift und der Baukunst, wurde der Grundstein gelegt. In kunstvollen Inschriften schildern die Mauern des Tempels diesen Moment mit fast poetischer Detailverliebtheit: Die Schöpfungsgötter jubelten, Ptah formte das Heilige, und Thot, der Gott der Weisheit, bestimmte die perfekten Proportionen. Diese bildhafte Sprache lässt den Bau fast wie ein göttliches Werk erscheinen.
Doch der Bau verlief nicht ohne Unterbrechungen. Politische Unruhen und Machtwechsel verzögerten die Arbeiten mehrfach. Erst im Jahr 57 v. Chr., nach fast 180 Jahren, wurde die Tempelanlage unter Ptolemaios XII. vollendet. Die letzte Hand wurde an die prächtigen Reliefs des gigantischen Eingangsportals gelegt – ein monumentaler Abschluss eines gewaltigen Projekts.
Das Tempelgelände selbst ist ein architektonisches Meisterwerk. Vom riesigen Pylon, der das Eingangstor bildet, bis zum Allerheiligsten im Innersten des Gebäudes, erzählt jeder Winkel eine eigene Geschichte. Der Vorhof ist von beeindruckenden Säulen gesäumt, jede mit einem individuell gestalteten Kapitell. Dahinter führen Säulenhallen und enge Korridore immer weiter in das Herz des Tempels, wo in einem gewaltigen Granitschrein das heilige Bild des Gottes Horus ruhte. Um diesen zentralen Raum reihen sich kleinere Kapellen, jede einem Aspekt des Horus-Mythos gewidmet. Besonders faszinierend ist auch der sogenannte „Raum der flüssigen Opfergaben“ sowie der „Raum der festen Opfergaben“, in denen die rituellen Gaben vorbereitet wurden.
Ein besonders heiliger Ort für werdende Mütter war das etwa 60 Meter entfernte Mammisi, das Geburtshaus des Kindgottes Harsomtus. Dieses kleinere Tempelchen, ebenfalls mit Säulen flankiert, symbolisierte die göttliche Geburt – ein zentrales Motiv der königlichen Ideologie. Die Reliefs im Inneren zeigen liebevoll die Legende der göttlichen Geburt, bewacht von Bes, dem Schutzgott von Neugeborenen.
Doch der Tempel von Edfu war nicht nur ein Ort des Kults und der Stille, sondern auch Schauplatz großer Feste. Jedes Jahr wurde die Hochzeit zwischen Horus von Edfu und Hathor von Dendara gefeiert. In einem farbenfrohen Ritual wurde Hathor auf einer Barke flussaufwärts hergebracht, um in einer feierlichen Zeremonie mit Horus vereint zu werden – ein Symbol für Fruchtbarkeit, kosmische Ordnung und königliche Macht. Ebenso wurde der Sieg von Horus über Seth zelebriert – eine Erzählung vom Triumph des Guten über das Böse, die im Herzen der ägyptischen Mythologie verankert ist.
Heute gehört der Tempel von Edfu zu den eindrucksvollsten Stationen einer Nilkreuzfahrt. Die Schiffe legen etwa 850 Meter vom Tempel entfernt an, und schon der Anblick aus der Ferne lässt erahnen, welch gewaltige Geschichte zwischen diesen uralten Mauern liegt. Wer durch die steinernen Gänge wandelt, steht nicht nur in einem Bauwerk aus der Zeit der Pharaonen, sondern betritt eine lebendige Legende – aus Sand geboren, vom Wind bewahrt und bis heute voller Magie.