
Tief eingeschnitten in die schroffe Landschaft Westkretas liegt ein Ort voller Mythos, Geschichte und Naturgewalt – die Samaria-Schlucht. Sie beginnt hoch oben auf der windumtosten Omalos-Hochebene und schlängelt sich über 17 Kilometer in Richtung Süden, bis sie das Libysche Meer erreicht. Mit ihren senkrecht aufragenden Felswänden, die stellenweise bis zu 600 Meter in den Himmel ragen, ist sie nicht nur eine der längsten Schluchten Europas, sondern auch eine der eindrucksvollsten. An ihrer engsten Stelle, der sagenumwobenen „Eisernen Pforte“, bleibt nur ein schmaler Durchgang von drei bis vier Metern – als hätte sich die Erde hier mit letzter Kraft geöffnet, um dem Wasser einen Weg zu bahnen.
Diese Schlucht ist kein Ort, den man zufällig entdeckt. Sie ist ein Ziel, ein Abenteuer, ein Pilgerweg durch Zeit und Stein. Wer sich von Mai bis Oktober frühmorgens auf den Weg macht, gehört zu den Tausenden, die täglich diese gewaltige Landschaft durchwandern – jeder mit der Hoffnung, etwas vom Zauber dieses Ortes mitnehmen zu dürfen. Schon die ersten Schritte offenbaren eine Welt fernab des Alltags: knorrige Kiefern, rauschende Quellen, verwitterte Kapellen am Wegesrand. Und über allem der Klang der Stille, nur unterbrochen vom Kreisen der Geier hoch über den Felswänden oder dem gelegentlichen Rufen einer Wildziege – der scheuen Kri-Kri, die nur hier, in der Abgeschiedenheit der Samaria-Schlucht, ihren letzten Rückzugsort gefunden hat.
Die Entstehung dieser Schlucht geht auf ein gewaltiges Spiel der Natur zurück. Vor etwa zwei Millionen Jahren begannen tektonische Kräfte, die Erde aufzuspalten – das Ergebnis: ein Riss, der sich mit jeder Regenzeit tiefer in den Fels fraß. Zahlreiche Quellen halfen mit, das Gestein auszuhöhlen, bis das heutige Monument der Natur entstand. Geologen sprechen nüchtern von Phylliten, Plattenkalk und Karbonatgestein, doch wer einmal durch die kühle Enge zwischen den Felswänden gewandert ist, spürt: Hier geht es um mehr als um Gestein – hier geht es um Ehrfurcht.
Auch die Geschichte hat tiefe Spuren in der Samaria hinterlassen. Im 19. Jahrhundert, während der Aufstände gegen die osmanische Besatzung, bot sie Rebellen Schutz. Sie wurde zur uneinnehmbaren Festung in einer Zeit des Umbruchs. Während des Zweiten Weltkriegs floh sogar die griechische Regierung durch die Schlucht und entkam über den Hafen von Agia Roumeli ins Exil. Selbst die deutschen Besatzer scheiterten an der Unzugänglichkeit der schroffen Pfade. Es heißt, wer die Samaria kontrolliert, kontrolliert den Süden Kretas – so strategisch und gleichzeitig geheimnisvoll ist dieser Ort.
Seit 1962 steht die Schlucht unter besonderem Schutz. Der gleichnamige Nationalpark wurde gegründet, die letzten Bewohner des winzigen Dorfs Samariá umgesiedelt, und das Tal der Stille sich selbst überlassen. Heute ist es nicht nur ein Nationalpark, sondern auch ein Symbol für die Verbindung zwischen Mensch und Natur. Rund 14 Pflanzenarten, die nur hier existieren, zieren den Weg – begleitet vom Duft nach Wildkräutern, Harz und frischer Erde.
Die Wanderung selbst ist anspruchsvoll, doch lohnend. Etwa 5 bis 7 Stunden braucht man, um vom Hochland hinunter zum Meer zu gelangen. Es gibt keine Einkehr, kein künstliches Licht, keine Musik – nur Wasser aus Quellen und die eigene Ausdauer. Wer weniger Zeit oder Kraft mitbringt, kann per Boot nach Agia Roumeli reisen und von dort aus ein Teilstück der Schlucht erwandern – bis zur Eisernen Pforte und wieder zurück. Straßen gibt es hier keine. Der Weg bleibt dem Fußgänger vorbehalten – ein Geschenk an alle, die noch wissen wollen, wie sich unberührte Natur anfühlt.
Die Samaria-Schlucht ist mehr als eine geografische Formation. Sie ist ein Erlebnis für die Sinne, ein Denkmal der Freiheit und ein Ort, an dem sich Vergangenheit und Gegenwart auf Schritt und Tritt begegnen. Wer sich auf sie einlässt, nimmt mehr mit als nur müde Beine – er kehrt zurück mit einer Geschichte, die man nicht in Büchern findet, sondern nur im Schatten der Felsen, im Flüstern des Windes und im Herzklopfen nach der letzten Kurve.