
Inmitten der rauen Schönheit Südnorwegens, etwa 25 Kilometer Luftlinie von der lebendigen Stadt Stavanger entfernt, ragt eine mächtige Felsplattform wie aus einer anderen Welt über den Lysefjord hinaus – der Preikestolen, zu Deutsch „Predigtstuhl“. Diese gigantische natürliche Kanzel, etwa 25 mal 25 Meter groß, fällt dramatisch 604 Meter senkrecht in die Tiefe ab und bietet einen atemberaubenden Blick über den fast 40 Kilometer langen Fjord und die umliegenden Berge. Wer einmal dort oben gestanden hat, vergisst diesen Moment nie – es ist, als würde man auf dem Dach der Welt stehen.
Doch dieses Naturspektakel ist kein leicht zugänglicher Ort. Wer den Preikestolen sehen will, muss ihn sich verdienen – durch eine Wanderung, die sowohl fordernd als auch faszinierend ist. Der Weg beginnt an der Preikestolhytta, wo eine ausgeschilderte Route zum Gipfel führt. Auf rund 3,8 Kilometern sind dabei etwa 330 Höhenmeter zu überwinden. Erst geht es steil über einen felsigen Höhenrücken, dann weiter auf Bohlenpfaden durch moosige, sumpfige Wälder. Die Strecke schlängelt sich vorbei an kleinen Seen, über Geröllfelder, durch enge Passagen und schließlich hinauf zur berühmten Plattform. Zwischenzeitlich trifft man auf den Sumpf Krogabekkmyra, die Urskarhöhe auf 418 Metern, die Scharte Neverdalsskaret auf 532 Metern und die märchenhafte Seengruppe Tjødnane – eine Wanderung durch eine urwüchsige Landschaft, wie sie in Sagen beschrieben wird. Kurz vor dem Ziel sichern Treppen und Geländer den letzten Aufstieg. Doch dann endet jede Absicherung. Der Preikestolen selbst ist ungesichert – nur ein falscher Schritt trennt einen vom Nichts.
Vor über 10.000 Jahren entstand diese gewaltige Felskanzel durch die rohe Kraft der Natur. Gletscher zogen sich damals zurück, und das Wasser, das in den Felsspalten gefror, sprengte massive Blöcke aus dem Berg. Was blieb, ist das heutige Plateau, das wie abgeschnitten über dem Fjord thront. Ein tiefer Riss zieht sich noch immer über das Plateau, doch Geologen geben Entwarnung – die Plattform ist stabil.
Die Landschaft rund um den Preikestolen ist ein Spiel aus Licht, Fels und Wasser. Heller Granit dominiert das Bild, durchsetzt von tiefgrünen Tälern und klaren Seen. Die Berge erreichen bis zu 843 Meter Höhe und sind von runden Kuppen und Hochebenen geprägt – ein Paradies für Kletterer, Wanderer und Naturfotografen. Der nahegelegene See Refsvatn unterhalb der Preikestolhytta spiegelt die Stille der Region und lädt zum Verweilen ein.
Kein Wunder also, dass sich Jahr für Jahr Hunderttausende Menschen auf den Weg machen, um dieses Naturwunder selbst zu erleben. Im Jahr 2019 waren es über 330.000 Wanderer, an Spitzentagen wie dem 17. Juli sogar über 5.300 Besucher. Doch mit dem Ruhm kommen auch die Schattenseiten. Lange Schlangen auf dem Wanderweg, überlastete Toilettenhäuschen und immer mehr Rettungseinsätze belasten die fragile Wildnis. Naturschützer warnen vor den Folgen des Massentourismus – ein Balanceakt zwischen Zugänglichkeit und Erhaltung.
Nicht nur Abenteurer, auch Künstler zog es zu diesem Ort. Das Theaterstück norway.today von Igor Bauersima spielt auf dem Preikestolen, wo die Protagonisten mit dem Gedanken an Suizid ringen – ein drastischer Kontrast zur majestätischen Kulisse. Und auch Hollywood hat den Felsen entdeckt: Im Actionfilm Mission Impossible: Fallout wurde der dramatische Showdown auf dem Preikestolen gedreht – wenngleich die Szene angeblich im fernen Kaschmir spielt. Ganze 800 Helikopterlandungen wurden für die Dreharbeiten beantragt – ein Aufwand, der dem Spektakel gerecht wurde.
Das Klima in der Region ist typisch für Norwegens Küsten – mild, feucht, oft neblig. Auf den Hochebenen kann es selbst im Sommer frisch werden, im Winter liegt hier tiefer Schnee. Doch egal zu welcher Jahreszeit – der Preikestolen bleibt ein Ort, der Ehrfurcht weckt. Ein Ort, der Geschichten schreibt. Und einer, der uns daran erinnert, wie gewaltig, unbezwingbar und schön die Natur sein kann.