
Ungefähr 35 Kilometer südlich von Salerno, inmitten einer weiten Ebene nahe der Mittelmeerküste, liegt ein Ort, der Geschichte atmet: Paestum. Diese antike Stätte ist heute eine faszinierende Ruinenlandschaft, doch einst war sie eine blühende griechische Kolonie mit monumentalen Tempeln, kunstvollen Bauwerken und einem reichen kulturellen Leben. Hinter Hügeln und einer Lagune verborgen, bot sich den frühen Siedlern ein idealer Platz für Landwirtschaft – kein geschäftiger Hafen, sondern fruchtbare Böden standen im Fokus. Der Schutz der umliegenden Berge und der nahe Fluss Sele rundeten die strategisch kluge Lage ab.
Die Geschichte Paestums beginnt um 600 v. Chr., als griechische Siedler aus Sybaris oder Troizen eine Kolonie gründeten, die sie Poseidonia nannten – benannt nach dem Gott des Meeres, Poseidon. Ironischerweise lag der Ort etwas abseits vom Wasser, aber die Nähe reichte aus, um Handel zu treiben. Der Reichtum, der daraus erwuchs, manifestierte sich bald in prächtigen Tempelbauten. Im 5. und 6. Jahrhundert v. Chr. entstanden einige der beeindruckendsten Tempel der griechischen Welt, von denen drei heute noch erstaunlich gut erhalten sind. Ihre dorischen Säulen ragen bis heute majestätisch in den Himmel und erzählen von einer Zeit, in der hier Kultur und Kunst blühten.
Doch wie so oft in der Geschichte nahm das Schicksal eine Wendung. Um 400 v. Chr. fiel die Stadt in die Hände der Lukaner, eines einheimischen Volksstammes. Sie nannten den Ort Paistos, was möglicherweise auf eine Verschmelzung der Kulturen hinweist. Die Griechen passten sich an – oder wurden verdrängt, das bleibt im Nebel der Geschichte verborgen. Später kamen die Römer. 273 v. Chr. machten sie Paestum zu einer Kolonie. Neue Bauten entstanden, alte wurden umgewidmet. Die Bronzemünzen durften kurioserweise noch eine Weile weiter geprägt werden – ein kleines Zugeständnis an die einstige Größe der Stadt.
Doch mit dem Ende der Antike kam auch der langsame Untergang. Um 500 n. Chr. versumpfte das Land, Malaria breitete sich aus, und die letzten Bewohner flohen auf höher gelegenes Terrain. Die Tempel, einst Zeugen eines blühenden Stadtlebens, wurden von der Natur überwuchert. Der Ort geriet in Vergessenheit, wurde von Sarazenen und Normannen geplündert und schließlich vollständig verlassen.
Erst in der Renaissance tauchte Paestum wieder in literarischen Werken auf. Die Dichter schwärmten von den sagenhaften „Rosen von Paestum“, ohne zu wissen, wo der Ort genau lag. Im 18. Jahrhundert kamen dann Forscher, Zeichner und Archäologen – fasziniert von den riesigen Tempeln, die wie schlafende Giganten aus dem Dickicht emporragten. Mit der Entdeckung von Pompeji und Herculaneum rückte auch Paestum in den Fokus kunstliebender Reisender, die auf der Grand Tour Station machten.
Heute ist Paestum ein Ort des Staunens. Die drei Tempel – der sogenannte Poseidontempel, der Heratempel (auch als Basilika bekannt) und der Athena-Tempel – lassen sich wie Kapitel eines Buches lesen. Der Poseidontempel aus dem 5. Jahrhundert v. Chr. zeigt eine fast vollendete klassische Form, während der ältere Heratempel mit seiner archaischen Wucht beeindruckt. Der Athena-Tempel überrascht durch ungewöhnliche Elemente, die nicht zum dorischen Stil passen – ein Zeichen von Experimentierfreude oder kulturellem Einfluss?
Auch die Römer haben Spuren hinterlassen: ein kleines Amphitheater, das Comitium, und eine massive Stadtmauer mit vier Toren. Im Archäologischen Museum von Paestum wird die Geschichte durch zahlreiche Funde lebendig – darunter die berühmten bemalten Grabplatten aus dem sogenannten „Grab des Tauchers“, das eine symbolische Szene zeigt: den Sprung vom Leben in das Jenseits.
Sogar die Literatur hat Paestum nicht vergessen. Johann Wolfgang von Goethe besuchte die Ruinen 1787 und war tief beeindruckt. In seinem Tagebuch schreibt er über das erste Erstaunen angesichts der massiven, fremdartigen Architektur – und über seine geistige Annäherung an eine längst vergangene Welt. Auch Johann Gottfried Seume pilgerte nach Paestum, auf der Suche nach den legendären Rosen. Doch er fand keine. Die Einheimischen hatten sie herausgerissen, verkauft, vergessen. Seume schimpfte über den Frevel an der Natur und forderte, sie wieder anzupflanzen. Vielleicht werden eines Tages wieder Rosen zwischen den Steinen blühen – als zarter Kontrast zu den ewigen Säulen.
Paestum ist mehr als eine Ruinenstätte. Es ist ein Ort, an dem Geschichte spürbar wird, an dem Kultur, Natur und Mythos ineinanderfließen. Wer sich auf die Reise dorthin begibt, betritt nicht nur ein UNESCO-Weltkulturerbe – sondern eine andere Welt.