
In einem abgelegenen Tal der Provence, umgeben von duftenden Lavendelfeldern und der sanften Stille der Natur, liegt ein Ort, der tief in der Geschichte verwurzelt ist und gleichzeitig bis heute eine spirituelle Kraft ausstrahlt: die Abtei Notre-Dame de Sénanque. Dieses Kloster, das 1148 von Zisterziensermönchen aus der Abtei Mazan gegründet wurde, steht für eine Idee, die damals revolutionär war – ein radikaler Bruch mit dem Prunk und der Machtentfaltung anderer Klöster, hin zu einem Leben in Askese, Einfachheit und geistiger Sammlung.
Sénanque war nicht nur ein spiritueller Rückzugsort, sondern auch ein Ort des Wachstums. Bereits vier Jahre nach seiner Gründung wurde ein Tochterkloster gegründet, und durch großzügige Schenkungen der lokalen Adeligen wuchs der Besitz stetig. Bald entstanden auf entfernten Gütern sogenannte Grangien – landwirtschaftliche Höfe, von Laienbrüdern bewirtschaftet. Im 13. Jahrhundert erreichte die Abtei ihren Höhepunkt – reich an Besitz, aber zugleich auch gefährlich nah an der Weltlichkeit, von der sich der Orden eigentlich distanzieren wollte. Erst ein strenger Abt im 15. Jahrhundert brachte wieder Ordnung und Demut zurück.
Doch das Kloster blieb nicht unberührt von den Stürmen der Zeit. Im Jahr 1544 wurde es von aufständischen Waldensern niedergebrannt, einige Mönche fanden den Tod durch den Strick. Danach verlor Sénanque an Bedeutung – gegen Ende des 17. Jahrhunderts lebten dort nur noch zwei Mönche. Im 18. Jahrhundert wurde zumindest ein Flügel des Klosters wiederhergestellt, bevor in der Französischen Revolution das gesamte Gelände als Staatseigentum verkauft wurde. Paradoxerweise rettete genau das das Gebäude vor dem vollständigen Abriss. Im 19. Jahrhundert kehrte neues Leben ein: Marie-Bernard Barnouin sorgte für eine Wiederbesiedlung – zeitweise lebten dort bis zu 72 Mönche. Heute ist Sénanque ein Priorat, abhängig von der Abtei Lérins, mit einer kleinen Gemeinschaft, die das spirituelle Erbe lebendig hält.
Architektonisch spiegelt die Abtei die Ideale der Zisterzienser wider wie kaum ein anderer Ort. Schlichtheit und Funktionalität prägen die Bauweise – kein Prunk, keine farbigen Fenster, keine überflüssigen Verzierungen. Die Gebäude wirken fast streng, dabei geradezu meditativ klar. Die Zisterzienser wollten mit dieser Gestaltung ihren Glauben leben, nicht nur zeigen. Alles war durchdacht: Die Kirchen wurden nach Osten ausgerichtet, damit das Licht – Symbol für Christus – bei der Morgenmesse durch die Fenster hinter dem Altar fiel. In Sénanque allerdings wurde die Kirche aus topografischen Gründen nach Norden gebaut – eine seltene Ausnahme.
Und doch gibt es inmitten der Kargheit zwei Stellen, an denen sich etwas wie Poesie in Stein eingeschlichen hat. Im Kreuzgang sind die Kapitelle der Säulen mit feinen Blätterranken verziert – lebendige, fast tanzende Formen in einem ansonsten stillen Raum. Und in der Kirche lenkt eine achteckige Kuppel über der Vierung, durch deren Öffnung das Licht von oben fällt, den Blick gen Himmel. Solche baulichen Details waren unter Zisterziensern ungewöhnlich und fast schon ein Regelbruch.
Das Dormitorium, der Schlafsaal der Mönche, ist ein langer, karger Raum mit einem einzigen, durchgehenden Gewölbe. Es war nicht beheizt – man schlief auf Strohlagern, beißender Winterkälte ausgeliefert. Eine Treppe führte direkt zur Kirche, wo mitten in der Nacht der Tag mit dem Gebet begann. Auch der Kreuzgang, das spirituelle Herz des Klosters, erzählt von jener Mischung aus Ordnung, Symbolik und Zurückgezogenheit. Zwölf Bögen in jedem Flügel – ein Verweis auf die Apostel, das Himmlische Jerusalem. Licht und Schatten, Stein und Stille – in ihrer Verbindung erschufen sie einen Raum zwischen Himmel und Erde.
Neben dem Kreuzgang lag das Calefactorium – ein beheizter Raum, in dem gearbeitet, gelesen und geschrieben wurde. Das Refektorium, einst Ort der gemeinsamen Mahlzeiten, ist heute die Kapelle der Mönche. Und der Kapitelsaal, einst Zentrum der Entscheidungen, der Vergebung und der Erinnerungen, beeindruckt durch seine Klarheit und Akustik. Dort, dem Sitz des Abtes gegenüber, lugt ein in Stein gemeißelter Dämon hervor – als mahnender Blick vielleicht, um stets wachsam zu bleiben.
Notre-Dame de Sénanque ist mehr als ein Bauwerk. Es ist ein Ort, an dem Geschichte, Glaube und Stille sich begegnen. Wer durch seine kühlen Gänge geht, hört nicht nur die Schritte auf dem Steinboden, sondern vielleicht auch ein Echo aus einer Zeit, in der das Wesentliche ganz bewusst im Verzicht lag.