
Matera – allein der Klang dieses Namens weckt Bilder von engen Gassen, verwitterten Steinfassaden und geheimnisvollen Höhlen, die Geschichten aus Jahrtausenden erzählen. Diese Stadt in der süditalienischen Region Basilikata ist ein Ort wie kein anderer, nicht nur wegen ihrer besonderen Lage oberhalb der wilden Schlucht des Gravina-Flusses oder der kargen Hochebene der Murgia. Nein, es ist die Geschichte, die Matera in Stein geschrieben hat – wortwörtlich. Denn ein Großteil der Altstadt besteht aus Höhlensiedlungen, den berühmten Sassi, die direkt in den Fels gehauen wurden und heute ein einzigartiges UNESCO-Welterbe bilden.
Man sagt, Matera sei eine der ältesten Städte der Welt – bewohnt seit der Jungsteinzeit, geformt durch Jahrtausende von Kulturen: Griechen, Römer, Byzantiner, Normannen – sie alle haben ihre Spuren hinterlassen. Die Römer gaben ihr den Namen Matheola, doch ihr Herz blieb urtümlich. In den verwinkelten Gassen und Grotten, zwischen Felskirchen und uralten Mauern, scheinen die Jahrhunderte miteinander zu flüstern. Die Stadt hat Kriege erlebt, Eroberungen überstanden, wurde geplündert, erhob sich und fiel wieder – und überdauerte doch alles. Selbst als Sarazenen sie im Jahr 938 verwüsteten oder der verhasste Graf Tramontano 1514 von seinen Untertanen auf offener Straße ermordet wurde, blieb Matera bestehen – verwundet, aber stolz.
Dabei sah die Stadt auch dunkle Zeiten. Noch Mitte des 20. Jahrhunderts lebten Tausende Menschen in den Höhlen der Sassi – ohne fließendes Wasser, ohne Strom, in bitterer Armut und oft heimgesucht von Krankheiten wie der Malaria. Der Schriftsteller Carlo Levi beschrieb die Zustände in seinem Buch Christus kam nur bis Eboli so eindringlich, dass sie ganz Italien erschütterten. In den 1950er-Jahren begann die Umsiedlung der Bewohner in moderne Viertel am Stadtrand, Orte mit klingenden Namen wie La Martella oder Borgo Picciano. Die Sassi selbst verfielen – bis man ihren Wert erkannte. Heute sind sie nicht mehr Sinnbild der Schande, sondern des kulturellen Reichtums.
1993 wurde Matera für seine Einzigartigkeit mit dem UNESCO-Titel geadelt, und 2019 zur Europäischen Kulturhauptstadt gekürt – als erste Stadt Süditaliens. Das war nicht nur eine Auszeichnung, sondern ein Aufbruch: Museen wurden gegründet, Kirchen restauriert, und aus verlassenen Grotten wurden Kunstgalerien, Herbergen, Restaurants mit Kerzenlicht in uralten Gemäuern. Besonders beeindruckend sind die Felsenkirchen wie San Pietro Caveoso oder Santa Maria dell’Idris, die sich wie selbstverständlich in den Kalkstein schmiegen.
Und dann ist da noch das Castello Tramontano, das düstere Wahrzeichen auf dem „Lapillo-Hügel“. Einst wollte es ein tyrannischer Graf zur Machtdemonstration über die Stadt errichten, doch seine Ermordung ließ es unvollendet zurück – ein Denkmal des Widerstands. Unterirdische Zisternen, von Säulen getragen, zeugen von dem Einfallsreichtum, mit dem die Menschen hier seit Jahrhunderten überlebten. Heute kann man durch diese Gewölbe wandeln wie durch ein Labyrinth der Zeit.
Matera schlägt die Brücke zwischen uralter Vergangenheit und moderner Zukunft. Die Stadtbahn Metrotranvia dei Sassi, die 2024 in Betrieb geht, verbindet Geschichte und Gegenwart in nur 16 Minuten Fahrzeit. Museen wie das Archäologische Nationalmuseum oder das Museum der bäuerlichen Zivilisation erzählen die Geschichten derer, die diesen Ort geformt haben – mit bloßen Händen, aus Staub, Stein und unerschütterlichem Willen.
Wer einmal durch Materas enge Gassen gelaufen ist, wer den Abendnebel über den Sassi gesehen hat, in dem die Lichter flackern wie in einer anderen Welt, der versteht: Diese Stadt ist nicht einfach ein Ort. Sie ist ein lebendiges Gedächtnis, ein Wunder aus Fels, eine Seele aus Stein.