
Hoch über dem glitzernden Mittelmeer, auf einem windumtosten Hochplateau im Süden der maltesischen Insel, thront eine der geheimnisvollsten Stätten der Frühgeschichte Europas: Ħaġar Qim. Inmitten dieser uralten Landschaft, nur einen Steinwurf vom kleinen Ort Qrendi entfernt, ragen mächtige Kalksteinblöcke aus dem Boden – stumme Zeugen einer Zeit, als Menschen begannen, sich mit dem Göttlichen zu verbinden und monumentale Bauwerke errichteten, ohne das Rad oder Metallwerkzeuge zu kennen. Die Tempelanlage Ħaġar Qim gehört zu den ältesten frei stehenden Gebäuden der Welt und ist Teil eines der fünf großen prähistorischen Heiligtümer Maltas. Gemeinsam mit dem nahegelegenen Mnajdra-Tempel bildet sie ein spirituelles Doppel, das vor mehr als 5000 Jahren das religiöse Zentrum einer hochentwickelten, heute weitgehend vergessenen Kultur war.
Vier Tempel wurden hier über die Jahrhunderte hinweg erbaut, überformt, verbunden – ein organisches Geflecht aus rituellen Räumen, Altären, Nischen und riesigen Monolithen. Der besterhaltene unter ihnen ist der sogenannte Südtempel, der trotz seiner langen Geschichte und zahlreicher Umbauten noch immer in Teilen seine ursprüngliche Form bewahrt hat. Seine Struktur ist einzigartig auf Malta: nicht linear, sondern wie angeklebt und zusammengewachsen, als hätten Generationen von Baumeistern immer wieder neue Räume an die bestehenden angebaut, gelenkt vom Wandel religiöser Vorstellungen. Die ältesten Spuren datieren in die Mġarr-Phase um 3600 v. Chr., doch seine Nutzung reicht durch die gesamte maltesische Tempelperiode bis etwa 2500 v. Chr.
Tritt man durch den Haupteingang des Alttempels, betritt man eine Welt aus massiven Steinwänden, fein gearbeiteten Altären und geheimnisvollen Durchlässen. Einige Räume sind nur über schmale fensterartige Öffnungen miteinander verbunden – vielleicht, um rituelle Handlungen sichtbar, aber nicht zugänglich zu machen. In einer dieser Apsiden fand man die berühmte Venus von Malta, eine kleine, rundliche Figur, die möglicherweise eine Fruchtbarkeitsgöttin darstellt. Zwei Altarblöcke, mit Farnrelief verziert, scheinen von einer Kultur zu sprechen, die die Natur tief verehrte.
Besonders faszinierend ist die sogenannte Orakelnische, eine Öffnung, durch die nicht – wie oft vermutet – Weissagungen gesprochen wurden, sondern Opfergaben geworfen wurden. Diese fielen in einen abgesperrten Bereich, der einst von einer niedrigen Mauer begrenzt war. Alles deutet darauf hin, dass dieser Akt nicht immer friedlich verlief – Überreste zerstörter Statuen in einem benachbarten, verschütteten Areal lassen auf religiöse Auseinandersetzungen oder bewusste Entweihungen schließen. Viele dieser alten Figuren wurden offenbar absichtlich zerbrochen und in unzugänglichen Bereichen vergraben, als wären sie nicht nur überholt, sondern gefährlich geworden.
Die Tempel selbst bestehen aus globigerinem Kalkstein, einem Material, das zwar leicht zu bearbeiten, aber auch sehr empfindlich ist. Einige Monolithen wiegen bis zu 20 Tonnen. Einer der größten – sechs Meter lang und drei Meter hoch – liegt direkt neben dem Außentempel bei der Orakelnische. Noch beeindruckender ist ein stehender Megalith auf der Nordseite, der sich über fünf Meter in die Höhe reckt – ein gewaltiger Zeigefinger in den Himmel. Auch die klassische halbrunde Exedra wurde hier durch einen massiven Opferstein ersetzt, der einst wohl mit rituellen Gaben bedeckt war.
Obwohl die Anlage den Maltesern seit jeher durch ihre herausragenden Steine bekannt war, begann die archäologische Erforschung erst im Jahr 1839. Seitdem hat sich viel getan. 1992 wurde Ħaġar Qim von der UNESCO zum Weltkulturerbe erklärt – eine Würdigung für ein Bauwerk, das längst zu den Kronjuwelen prähistorischer Architektur zählt. Um das empfindliche Gestein vor Wind, Wetter und Umweltverschmutzung zu schützen, wurde die gesamte Anlage 2009 mit einer riesigen Zeltkuppel überspannt. Sie wirkt wie ein moderner Schleier über einem alten Heiligtum – ein stilles Versprechen, dass das Erbe dieser uralten Bauherren auch in Zukunft sichtbar bleiben wird.