
Tief im Herzen der französischen Provence, dort wo sich die Landschaft wild, ursprünglich und majestätisch zeigt, schneidet sich der Fluss Verdon mit türkisfarbenem Wasser durch gewaltige Kalkfelsen und erschafft dabei ein Naturwunder, das zu den spektakulärsten Europas gehört: die Gorges du Verdon, oft ehrfürchtig als der „Grand Canyon Frankreichs“ bezeichnet. Zwischen der charmanten Stadt Castellane und dem malerischen Lac de Sainte-Croix erstreckt sich diese gigantische Schlucht auf rund 21 Kilometern Länge. Bis zu 700 Meter tief und stellenweise kaum mehr als ein schmaler Spalt zwischen massiven Felswänden, ist der Canyon ein atemberaubender Anblick – und eine Einladung an alle, die das Abenteuer suchen.
Der Verdon, benannt nach seiner smaragdgrünen Farbe, entspringt in den Höhenlagen rund um den Col d’Allos. Auf seinem Weg durch das Bergland Trois Évêchés formte er über Millionen von Jahren die Landschaft, fraß sich in das weiche Kalkgestein und hinterließ ein Tal, das zu einem der größten Canyons Europas anwuchs. Diese dramatische Kulisse ist das Ergebnis einer langen geologischen Reise: Vor über 200 Millionen Jahren lag die Provence noch unter dem Meer. Muscheln, Korallen und Sedimente bildeten dicke Kalkschichten. Später hob sich das Land, die Alpen entstanden, und die Gletscher der Eiszeiten gaben dem Verdon schließlich das Werkzeug in die Hand, um diesen gewaltigen Einschnitt in die Erde zu graben.
Doch nicht nur die Natur schrieb Geschichte: In jüngerer Zeit wurde auch der Mensch Teil dieses Erbes. Die Errichtung mehrerer Staudämme, insbesondere des Sainte-Croix-Staudamms in den 1970er Jahren, veränderte das Gesicht der Region. Das Dorf Les Salles-sur-Verdon musste weichen, versank in den Fluten und wurde rund 400 Meter entfernt neu errichtet. Es ist heute eine der jüngsten Gemeinden Frankreichs – ein stiller Zeuge für den Preis des Fortschritts. Dennoch ist die Region stolz auf ihre Bewahrung: 1990 wurde die Schlucht unter Naturschutz gestellt, und 2006 triumphierten Umweltschützer endgültig, als eine geplante Hochspannungsleitung durch den Canyon gerichtlich verhindert wurde – nach 23 Jahren des Widerstands.
Heute ist die Verdonschlucht ein Paradies für Naturfreunde und Abenteurer. Die Möglichkeiten sind ebenso vielfältig wie eindrucksvoll: Kajakfahrer und Wildwasserschwimmer stürzen sich in die Strömung – allerdings nur an bestimmten Tagen, wenn die Staudämme gezielt mehr Wasser ablassen. Wer lieber trockenen Fußes bleibt, wandert entlang des berühmten Sentier Martel, einer teils schwindelerregenden, aber lohnenden Route durch den Canyon. Über Leitern, schmale Pfade und durch finstere Tunnel schlängelt sich der Weg durch die Schlucht – ein echtes Abenteuer, das mit spektakulären Ausblicken belohnt wird. Doch Vorsicht: Die rund sechs Stunden lange Tour bietet keine Möglichkeit zum Ausstieg – einmal drin, muss man sie bis zum Ende durchziehen.
Auch Kletterer finden in der Gorges du Verdon ihre Spielwiese. Schon in den 70er und 80er Jahren machten Pioniere wie Patrick Edlinger den Canyon berühmt, indem sie senkrechte Wände in schwindelerregender Höhe bezwangen. Heute ist das Gebiet ein Klassiker der Kletterszene – mit Routen, die sowohl sportlich als auch landschaftlich herausfordern.
Nicht zuletzt bietet die Gegend auch Genuss für jene, die es gemütlicher mögen. Eine Panoramastraße mit zahlreichen Aussichtspunkten schlängelt sich rund um die Schlucht. Hier können Besucher nicht nur den Canyon bestaunen, sondern auch die berühmten Lavendelfelder der Provence. Und wenn der Wind günstig steht, tanzen Paraglider über dem Abgrund, während unten am Fluss Kanus lautlos durchs Wasser gleiten. Wer sich noch einen Adrenalinkick gönnen will, wagt einen Sprung von der Pont de l’Artuby – beim Bungee-Jumping in schwindelerregender Höhe.
Die Gorges du Verdon ist mehr als nur eine geographische Besonderheit – sie ist ein Ort, an dem sich Naturgewalt, Geschichte und Abenteuerlust zu einer unwiderstehlichen Mischung vereinen. Wer einmal dort war, wird verstehen, warum so viele Menschen wiederkommen – getrieben von der Faszination, die dieser magische Ort unweigerlich auslöst.