
In der toskanischen Stadt Pisa ragt ein Bauwerk in den Himmel, das längst weltberühmt geworden ist – nicht wegen seiner Höhe, sondern wegen seiner markanten Schieflage: der Schiefe Turm von Pisa. Dieser elegante Glockenturm, ursprünglich als Campanile für den nahegelegenen Dom geplant, fasziniert seit Jahrhunderten Besucher aus aller Welt. Seine Geschichte beginnt am 9. August 1173 mit der feierlichen Grundsteinlegung. Doch schon 12 Jahre später – die Bauarbeiten hatten gerade die dritte Etage erreicht – begann sich der Turm auf tückischem Untergrund aus lehmigem Morast und Sand in Richtung Südosten zu neigen. Diese bedrohliche Bewegung führte zu einem Baustopp, der fast ein Jahrhundert lang andauern sollte.
Als der Bau im 13. Jahrhundert fortgesetzt wurde, versuchte man, der Schieflage durch architektonische Anpassungen entgegenzuwirken: Die oberen Etagen wurden schräg entgegengesetzt zur Neigung gebaut. Doch auch das konnte das Problem nicht lösen. Erst 1372 wurde das Glockengeschoss fertiggestellt – nach fast 200 Jahren Bauzeit. So entstand eines der schiefsten Bauwerke der Welt, das eigentlich nie so geplant war. Der Turm misst etwa 56 Meter in der Höhe, besteht aus 14.500 Tonnen weißem Carrara-Marmor und hat sieben Glocken. Im Inneren hängt ein Lot, das eindrucksvoll demonstriert, wie stark der Baukörper aus dem Lot geraten ist: Fast vier Meter beträgt die Auslenkung an der Spitze.
Der Mythos um den Turm ist mindestens ebenso legendär wie seine Architektur. So soll Galileo Galilei – selbst ein Sohn Pisas – vom Turm aus seine berühmten Fallversuche durchgeführt haben, mit denen er die Fallgesetze demonstrierte. Und auch die Piazza del Duomo, auf der sich der Turm zusammen mit dem Dom, dem Baptisterium und dem Camposanto befindet, ist heute UNESCO-Weltkulturerbe.
Der Turm selbst ist ein architektonisches Wunderwerk. Jedes Stockwerk besitzt einen Rundgang mit 30 Säulen, und die obere Galerie bietet einen atemberaubenden Blick über Pisa. Die sieben Glocken – jede mit einem eigenen Namen, Klang und liturgischem Zweck – wurden über Jahrhunderte hinweg von Hand geläutet. Doch aus Sorge um die Statik ertönen sie heute nur noch sanft per elektromagnetischem Hämmerwerk. Die kleinste Glocke, „Vespruccio“, erinnert mit ihrer zuckerhutartigen Form an mittelalterliche Handwerkskunst. Die größte, „Assunta“, bringt stolze 2,6 Tonnen auf die Waage.
Doch so romantisch die Vorstellung vom schiefen Turm auch sein mag – er war jahrzehntelang ein Sorgenkind der Ingenieure. 1990 wurde das Bauwerk aus Sicherheitsgründen für Besucher gesperrt. Internationale Fachleute wurden aufgerufen, ihre besten Ideen zur Rettung dieses einzigartigen Denkmals einzureichen. Erste Maßnahmen wie Stahlreifen, Bleibarren und Bodenvereisung konnten das Fortschreiten der Neigung nur begrenzt aufhalten. Erst Ende der 1990er-Jahre einigte man sich auf eine Methode, bei der Boden unterhalb des nördlichen Fundamentes entfernt wurde. Dadurch sackte der Untergrund kontrolliert ab und der Turm richtete sich langsam um 44 Zentimeter auf – ein gewaltiger Erfolg, der seine Stabilität für mindestens 300 Jahre sichern soll.
Am 15. Dezember 2001 war es schließlich so weit: Der Schiefe Turm von Pisa öffnete seine Pforten wieder für Besucher. Heute dürfen Gruppen von maximal 40 Personen den Turm besteigen – ein unvergessliches Erlebnis, wenn man die spiralförmige Marmortreppe hinaufsteigt und sich dabei leicht schräg gegen die Wand lehnt. Im Inneren scheint die Zeit stehen geblieben zu sein. Die Spuren mittelalterlicher Baukunst, das Spiel von Licht und Schatten in den Säulengängen und der weite Blick über die Dächer von Pisa machen deutlich, warum dieses schiefe Bauwerk mehr ist als ein architektonisches Kuriosum: Es ist ein Symbol für menschliche Ausdauer, kreative Ingenieurskunst und den unermüdlichen Wunsch, Großes zu schaffen – selbst wenn es ein bisschen aus dem Gleichgewicht gerät.