Civita di Bagnoregio – winziges Dorf am Rand des Abgrunds

Civita di Bagnoregio
© Erlebnisreisen-weltweit

Civita di Bagnoregio wirkt auf den ersten Blick wie ein Ort aus einer anderen Zeit – vielleicht sogar aus einer anderen Welt. Hoch oben auf einem zerbrechlich wirkenden Tuffsteinfelsen thront dieses winzige Dorf, das man nur über eine lange, schmale Fußgängerbrücke erreichen kann. Keine Autos, kein Lärm, keine Hektik – nur Wind, Natur, bröckelnder Fels und eine Vergangenheit, die sich aus jeder Mauer, jedem Stein und jeder engen Gasse zu erheben scheint. Dieser beinahe märchenhafte Ort liegt zwischen Orvieto und Viterbo, nahe der Grenze zwischen Latium und Umbrien, und ist nur rund zehn Kilometer vom Bolsena-See entfernt.

Schon der Name Civita verweist auf die tiefe geschichtliche Bedeutung: In der Spätantike bezeichnete man damit das Herz einer Stadt, ihren ursprünglichen Kern, den eigentlichen Ursprung des heutigen Bagnoregio. Während der neuere Teil der Gemeinde unten in der Ebene liegt, erhebt sich Civita spektakulär und zugleich gefährlich zerbrechlich auf einem schmalen Grat. Jahrhunderte der Erosion nagen an den Rändern des Felsens, auf dem sich das Dorf wie ein Mahnmal gegen die Zeit hält – einer der Gründe, warum es als „sterbende Stadt“ bekannt wurde.

Doch so dramatisch diese Bezeichnung klingt, so lebendig ist die Geschichte dieses Ortes. Bereits im 7. Jahrhundert vor Christus sollen hier die Etrusker gesiedelt haben. Manche Forscher vermuten sogar, dass Civita der sagenumwobene Kultort Fanum Voltumnae gewesen sein könnte, wo sich die Herrscher der etruskischen Städte alljährlich versammelten, um gemeinsam das Schicksal ihres Bundes zu ergründen. Die Römer übernahmen später die Region, und mit dem Ende ihres Reiches verlor auch Civita an Bedeutung. Langobarden, Päpste und verschiedene Feudalherren prägten das Mittelalter, in dem Civita als Bischofssitz wieder an Einfluss gewann – bis ein schweres Erdbeben im Jahr 1695 den Bischof zwang, seine Residenz in das sicherere Bagnoregio in der Ebene zu verlegen.

Die kleine Stadt mit ihren kopfsteingepflasterten Gassen, dem Brunnen auf der Piazza San Donato und der gleichnamigen Kirche, die einst Kathedrale war, strahlt trotz ihres Verfalls eine große Würde aus. Besonders eindrucksvoll sind die Reste alter Paläste, in denen heute Ausstellungen mit etruskischen und römischen Funden gezeigt werden. Die Kirche selbst, wohl über den Trümmern eines heidnischen Tempels erbaut, hat im Laufe der Jahrhunderte zahlreiche Umbauten erfahren und trägt die Zeichen vieler Epochen in sich – von der Langobardenzeit über das Mittelalter bis zur Renaissance.

Doch die vielleicht faszinierendste Entwicklung der letzten Jahrzehnte ist die Wiedergeburt Civitas durch den Tourismus. In den 1990er Jahren war das Dorf fast völlig verlassen, nur eine Handvoll alter Menschen lebten hier noch. Dann kamen Aussteiger, Künstler, ein römischer Ex-Manager und Visionäre wie die Architektin Astra Zarina, die in den verlassenen Ruinen Möglichkeiten statt Ruin sahen. Nach und nach wurden Häuser renoviert, kleine Cafés eröffnet, Ferienwohnungen eingerichtet. Sogar eine amerikanische Universität hält hier Sommersitzungen ab, und Brautpaare kommen aus aller Welt, um sich vor dieser einzigartigen Kulisse fotografieren zu lassen.

Heute lebt Civita zwischen Vergangenheit und Zukunft – zwischen Verfall und Renaissance. Die alte Bevölkerung hält sich eher im Hintergrund, doch Touristen, Künstler und Liebhaber des Authentischen haben das Dorf zu neuem Leben erweckt. Was einst zu den „sterbenden Städten“ gezählt wurde, hat sich zu einem Symbol der Wiederentdeckung und Bewahrung verwandelt. Und während die Erosion weiter am Tuff nagt, scheint Civita di Bagnoregio immer wieder zu beweisen, dass es noch nicht bereit ist, ganz zu verschwinden.

Italiens Wunder selbst erleben…